Vorwort

Creative Coding als Schule des Denkens

Masterarbeit von Tim Rodenbröker
Fachhochschule Bielefeld, Fachbereich Gestaltung
Studienrichtungen Digital Media and Experiment und Kommunikationsdesign

Betreut und geprüft durch
Prof. Dr. phil. Andreas Beaugrand
und Prof. Dipl.-Des. Robert Paulmann

Sommersemester 2022

Unsere Welt verändert sich in einem atemberaubenden Tempo. Der technologische Fortschritt führt kontinuierlich zu grundlegenden Umwälzungen. Es ist höchste Zeit, dass wir uns als Gestalter:innen mutig und kritisch mit den Technologien beschäftigen, die unseren Alltag prägen. Dies erfordert, dass wir uns konsequent auf die verborgenen Strukturen einlassen, die sich hinter den sichtbaren Oberflächen verstecken. Die Methode, mit der das möglich wird, heisst Creative Coding.

Design education in the age of Computation

Als ich um 2012 in Münster an der Fakultät für Kommunikationsdesign studierte, wurde dort in einem kleinen, abgelegenen Raum ein Seminar für Programmierung angeboten. Ich habe an diesem Seminar leider selbst nicht teilnehmen können, doch Kommilitonen berichteten mir, dass es ziemlich langweilig gewesen sei. Im darauffolgenden Semester wurde der Kurs mangels Interesse wieder eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt steckte unser Fachbereich in einem Prozess der fundamentalen Umstrukturierung. Die Fakultät für Design zog in einen strahlend weißen Neubau mit edlen Glasfronten. Parallel wurde ein Strategiewechsel vollzogen, der das Kursangebot weitgehend auf die berufliche Praxis in Werbeagenturen reduzierte. Es gab eine große Auswahl an Seminaren für Print, Markenentwicklung, Projektmanagement und Typografie, wobei Themen in der Schnittmenge zu computerbasierten Technologien nur am Rande Platz fanden. Aus meiner Sicht basierte das Curriculum auf der Annahme, dass Gestaltung und Technik zwei voneinander getrennte Welten seien. Ich habe diesen Gedanken immer bezweifelt, denn nichts hatte in meinen Augen jemals größeren Einfluss auf das Tätigkeitsfeld des Designs, als die rasend schnelle Entwicklung des Computers in den vergangenen 40 Jahren maeda1.

Das Buch Generative Gestaltung erschien 2009 im Verlag Hermann Schmidt, Mainz

Damals arbeitete ich als Tutor und wollte mittelfristig in die Lehre gehen. Dafür war ich auf der Suche nach einer überzeugenden Zukunftsperspektive für den Bereich Kommunikationsdesign. Mehrfach in der Woche besuchte ich die Hochschulbibliothek und verbrachte viele Stunden dort. Eines Tages stieß ich auf ein Buch, das für meine weitere Entwicklung richtungsweisend werden sollte: Generative Gestaltung, 2009 erschienen im Verlag Hermann Schmidt, Mainz. Es war ein hochwertiges, schweres Buch, das faszinierende, ungewöhnlich komplexe Grafiken zeigte. Das Besondere an den Abbildungen war, dass sie auf mathematischen Algorithmen und Daten basierten. Neben den Bildern war oft der Code zu finden, der mal mehr, mal weniger nachvollziehbar das beschrieb, was auf auf der gegenüberliegenden Seite abgebildet war. Besonders faszinierte mich die Tatsache, dass der Publikation auf theoretischer Ebene der breite Spagat zwischen Gestaltung und Kreativität gelang. In der generativen Gestaltung spielt der Computer selbst eine sehr wichtige Rolle, denn er ist letztlich der Gestalter, der auf Basis von mehr oder weniger konkreten Anweisungen agiert. Ganz abstrakt und verschwommen ahnte ich in dieser Sichtweise eine mögliche Perspektive für eine zukunftsweisende Designlehre. Dieser Gedanke hat mich dazu gebracht, tief in die generative Gestaltung einzutauchen und mir autodidaktisch das Programmieren beizubringen.

Nach einiger Zeit wurde mir klar, dass ich mich insgesamt weniger für die Gestaltung auf Basis von Algorithmen interessiere, sondern vielmehr die kreativen Prozesse, die im Kopf stattfinden. Das iteratives Herantasten an eine interessante Idee, das Denken in Systemen, das kreative Forschen in ünbekannten Territorien: diese Dinge machten mir große Freude. Deshalb nannte ich das, was ich tat, nicht mehr Generative Gestaltung, sondern Creative Coding. Nicht dass ich den Begriff erfunden habe, den gab es schon und ich weiss nicht mehr genau, wo er mir das erste Mal begegnet ist. Von da an war es jedenfalls nicht mehr so einfach zu erklären, was ich da tat. Wenn mich jemand danach fragte, antwortete ich, dass es um die Programmierung im Kontext von Kunst und Design gehe und dass Creative Coding ein kreativer Dialog mit dem Computer sei. Interessanterweise bekam das Thema nach meinem Studium in der Öffentlichkeit immer mehr Aufmerksamkeit. Auch der Begriff Creative Coding setzte sich durch.

Da ich wie oben erwähnt unbedingt in die Lehre gehen wollte, war ich hocherfreut, als ich 2018 meinen ersten Lehrauftrag für Creative Coding an der Fakultät für Kommunikationsdesign der Hochschule Rhein-Waal erhielt. Meinem Kurs gab ich den Namen Programming Posters und im Vorfeld steckte ich einige Wochen an Zeit in die Entwicklung eines Video Trailers, der den Studierenden im Vorfeld skizzenhaft eine Vogelperspektive auf die vielseitigen gestalterischen Möglichkeiten von Creative Coding im Kommunikationsdesign ermöglichen sollte.

Video-Trailer für Programming Posters, 2018

Die 15 Studierenden sollten im Laufe des Semesters jeweils eine Serie von Plakatmotiven mit Processing umsetzen. Die Idee ging wunderbar auf und das Seminar war aus meiner Sicht ein voller Erfolg, denn ich konnte einen recht großen Teil der Studierenden nachhaltig für das Thema begeistern. Auch die Projektergebnisse waren fast alle von hoher Qualität.

Kurz nach Semesterende bat mich die PAGE page um Materialien zur Veröffentlichung eines Artikels zu meinem Kurs. So erschien in Ausgabe 4/2019 ein sechsseitiger Artikel über mein Lehrkonzept page1 mit begleitendem Interview für die Online-Präsenz page2 und auch in Slanted und in der Form erschienen kleinere Beiträge dazu. Darüber hinaus bekam ich viele Angebote für Workshops und Vorträge an verschiedenen Institutionen in ganz Europa, die ich gerne annahm.

Irgendwann begriff ich, dass mich die große Zustimmung auch geblendet hatte. So ließ ich mich von Zeit zu Zeit dazu hinreissen, meine eigenen Annahmen und Aussagen nicht ausreichend zu hinterfragen, was mir berechtigte Kritik einbrachte. Gleichzeitig fiel es mir schwer, meine eigene Haltung zu Computern und der zunehmenden Technologisierung unserer Lebenswelt zu formulieren. Schon damals sah ich in Creative Coding weniger eine zusätzliche Gestaltungsmethode, als vielmehr ein Werkzeug zum Erkenntnisgewinn über die tieferen Strukturen der uns umgebenden Technologie. Der Wunsch, diese Ahnung zu erforschen und auszuleuchten, führte mich zu meinem Masterstudium in der Studienrichtung Digital Media & Experiment an der Fachhochschule Bielefeld. Heute weiß ich: Die Wechselwirkungen in der Welt der Technologie sind selbst für das leistungsfähigste menschliche Gehirn nicht greifbar und so komplex, dass sie mit einfachen Narrativen und Lösungsvorschlägen nicht kompatibel sind. Ich denke, wie in der Philosophie sollte bei der Auseinandersetzung mit Themen dieser Komplexität weniger die Antwort im Vordergrund stehen als die Frage.

Heute kann ich meine Haltung besser auf den Punkt bringen: Eine nachhaltige, ethisch-reflektierte Gestaltung der digitalen Sphäre ist eine enorm wichtige, herausfordernde, aber auch besonders spannende Aufgabe. Die Zeit läuft uns davon, denn zunehmend verschwinden Code und Algorithmen aus unserem Sichtfeld und verstecken sich hinter undurchsichtigen Oberflächen. Die Abgeschlossenheit der Technik hindert uns daran, das Material zu begreifen, aus dem die digitalen Artefakte bestehen, die wir tagtäglich nutzen dufva1. Ohne das Verständnis dieser Strukturen sind wir als Gestalter:innen handlungsunfähig und darauf beschränkt, uns lediglich die Oberflächen dekorieren zu können. Nehmen wir dies in Kauf, verlieren wir unsere Souveränität und somit auch die Entscheidungsfreiheit über wichtige Teile unseres Lebens. Auf der anderen Seite gibt es viel zu gewinnen, denn Creative Coding öffnet uns neue gestalterische Möglichkeiten, öffnet ganz neue Räume des Denkens. Es ist der Schlüssel in eine neue Welt. Für diese Welt will diese Arbeit eine grobe Landkarte sein.

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maeda1: Vgl. John Maeda: How to speak Machine. Computational thinking for the rest of us. New York City 2019, S. 12.
page: PAGE ist ein deutsches Magazin für die Medienbranche.
page1: https://timrodenbroeker.de/programming-posters/
page2: https://page-online.de/branche-karriere/interview-mit-tim/
dufva1: Vgl. Tomi Dufva: Art education in the post-digital era. Experiential construction of knowledge through creative coding. Aalto 2018, Seite 8. Link