Creative Coding als Chance

Irrfahrt

Eine meiner ausgeprägtesten Charaktereigenschaften ist wahrscheinlich meine Begeisterungsfähigkeit – mit allen zugehörigen Vor- und Nachteilen. Ihr Vorteil ist, dass sie mich dazu befähigt, proaktiv zu handeln und mich ohne äußeren Druck dazu motiviert, mich in neue Themen einzuarbeiten. Ihr Nachteil wiederum, dass mir durch sie immer wieder ein bestimmter Denkfehler passiert, der nicht selten zu langen Umwegen und ausschweifenden Irrfahrten führt: Wenn ich etwas beginne, das mich begeistert, wird meine Euphorie allzu oft von Naivität begleitet.

I think everybody in this country should learn how to program a computer, should learn a computer language, because it teaches you how to think.

Steve Jobs: The Lost Interview (2012), , (6. 4. 2022).

Als ich begann, mich mit Creative Coding zu beschäftigen, vermutete ich darin die Lösung für viele komplexe Probleme. Für meine Arbeit bekam ich sehr positives Feedback in Form von Kommentaren und Likes in Sozialen Netzwerken und früh erreichten mich Anfragen renommierter Hochschulen für Lehraufträge, Vorträge und Workshops. Ich steckte zweifellos in einem Confirmation Bias dobelli1, einer Schleife endloser Bestätigung für meine Arbeit.

Zu der Frage, welche Rolle Programmierung, bzw. Creative Coding in der akademischen Ausbildung zukünftiger Generationen von Kommunikations­gestalter:innen spielen sollte, hatte ich eine klare Meinung: Ich sah die Notwendigkeit, die Designausbildung grundlegend zu erneuern. Und zwar so weit, dass der Code als Werkzeug auf Augenhöhe mit der Typografie stehen sollte. Das Magazin PAGE brachte diese Position auf den Punkt, als sie mich nach einem Interview, zugunsten einer durchschlagenden Headline halbrichtig mit dem Satz zitierte: Nur programmierende Gestalter sind den Herausforderungen der Zukunft gewachsen page1. Der Online-Artikel und vor allem die Überschrift wurden kontrovers in den sozialen Medien diskutiert.

Ende 2020 veröffentlichte ich einen Video-Essay mit dem Titel Creative Coding Manifesto 2021 manifesto, in dem ich Creative Coding versuchsweise sogar ins Licht der Lösung für fundamentale Probleme in unserem Bildungssystem stellte. Die Frage, wie wir junge Menschen für einen reflektierten Umgang mit den immer komplexeren Technologien in unserer Lebenswelt stark machen könnten, beantwortete ich mit einem leidenschaftlichen Plädoyer für Creative Coding.

Mein erster Versuch, Creative Coding mit der Ethik zu verbinden

Rückblickend schwingt dieser Darstellung sicherlich viel von meiner Eingangs erwähnten Naivität mit. Ganz falsch lag ich aus heutiger Sicht betrachtet vielleicht trotzdem nicht, denn es gibt plausible wissenschaftliche Positionen, die in die gleiche Richtung zeigen. Schon Georg Trogemmann und Jochen Viehoff sahen 2005 in der künstlerischen Programmierung eine Methode für die kulturelle Reflexion von Technologie codeart1 und plädierten sogar dafür, Programmierung neben Lesen, Schreiben und Rechnen als elementare Kulturtechnik zu verstehen, die sie sicherlich auch in der Schulbildung verorten würden. Dieser Gedanke ist später noch häufiger von prominenten Persönlichkeiten formuliert worden.

Zweifel

Natürlich beschäftigte ich mich ebenfalls intensiv mit den Gegenpositionen zu diesen Ideen. Die Studie Designing Design Education der IF Design Foundation argumentiert beispielsweise, die akademische Design-Ausbildung im Bologna-Format sei zeitlich zu eng, um komplexe technische Themen wie die Programmierung in das Curriculum zu integrieren. Darüber hinaus sieht besagte Studie die Lebenszyklen von Technologien heute als zu kurz an, so dass ein Lehrplan auf der technischen Höhe der Zeit permanente Umstrukturierungsprozesse notwendig machen würde ifdf1. Ihre Argumentation suggeriert, dass technisches Wissen (Software-Skills) heute über das Internet kostenlos verfügbar sei und Studierende sich dieses Wissen einfach und effektiv im Selbststudium aneignen könnten. Der Studie zufolge sollten es vor allem Denkwerkzeuge und Methoden sein, die im Design-Studium vermittelt werden.

Allgemeiner sollten Schulen weniger Wert auf technisches Können legen und stattdessen universell anwendbare Lebensfertigkeiten in den Mittelpunkt rücken.

Yuval Noah Harari, 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München 2018, S. 402.

In den nur vier Jahren zwischen Studienbeginn und -abschluss verändern sich Technologie und Gesellschaft extrem dynamisch. Darum müssen Designer als Denker ausgebildet werden.

IF Design Foundation: Designing Design Education. Weissbuch zur Zukunft der Designlehre. Stuttgart 2021. S. 73

Sollten wir die Programmierung also doch vom Curriculum des Design-Studiums fern halten? Nun, ganz so einfach ist es in meinen Augen nicht, vorausgesetzt, man erkennt an, dass Programmierung weit mehr ist als nur ein technisches Werkzeug.

Neuland Computation

Nehmen wir an, es gäbe ein fremdes Land, dessen Kultur wir studieren wollten, die uns aber vollkommen fremd ist. Der Schlüssel zum ersten Verständnis dieser Kultur ist logischerweise die Sprache. Durch das Sprechen mit den Bewohnern, durch das Nachvollziehen ihrer Schriften und Gedanken, könnten wir Einsichten in ihre Kultur erhalten. Das Land, von dem John Maeda in seinem Buch How to Speak Machine spricht heißt Computation. Es ist das Land der Computer. Die Sprache, die hier gesprochen wird, ist Code und ohne diese Sprache zu beherrschen, bleiben uns nach Maeda sowohl die Kultur des Landes als auch die Denkweise seiner Bewohner:innen verschlossen maeda1.

Entscheidend ist, dass Computation kein Land ist, das wir bereisen und wieder verlassen können. Vielmehr ist es eine parallele Realität, die in unvorstellbarem Maße Einfluss auf unsere physische Lebenswelt hat und auch in Zukunft haben wird.

Ob Gestalter oder nicht – wir alle bewegen uns bereits seit vielen Jahren im Land des Computers und die Fragen an eine Kultur der Computerisierung können angesichts des Fortschritts von künstlicher Intelligenz, Robotik, Blockchain Technologie oder Virtueller Realitäten kaum dringlicher sein. Doch wie versetzen wir uns in die Lage, angemessen über Computation zu diskutieren? Müssen wir dafür wirklich, wie von John Maeda beschrieben, lernen, Code zu lesen und zu schreiben? Schließlich gilt es zu verstehen, wie ein Bewohner des Landes Computation, ein einzelner Computer also, denkt.

Computational Thinking

Computational Thinking ist ein Begriff, der vielseitig verwendet wird und noch keine allgemeingültige Bedeutung hat ct1. In der Pädagogik nutzt man ihn beispielsweise, um bestimmte Denkmethoden zu bündeln, die den Funktionsweisen des Computers entspringen, darunter Dekomposition, Mustererkennung, Abstraktion und algorithmisches Denken ct2.

James Bridle nutzt diesen Begriff in seinem Buch New Dark Age, um eine negative Tendenz zu beschreiben, die Menschen zu maschinellem Denken und Handeln verleitet und so zum kulturellen Verfall führt bridle1. Wäre das Bridle'sche Computerdenken ein wahrscheinliches Produkt des Lernens von Programmiersprachen, so gelte es mit Sicherheit davon abzuraten.

Gestaltung im post-digitalen Zeitalter

Die Fragen rund um die Rolle der Programmierung in der Designausbildung haben mich einige Jahre intensiv beschäftigt. Durch meine Recherchen und zahlreiche Diskussionen mit Studierenden, Lehrenden und Gestaltenden habe ich nach meiner Irrfahrt wieder einen Orientierungspunkt gefunden, der mich letztlich wieder in die Nähe meiner ursprüngliche Haltung geführt hat.

Nichts hat aktuell größeren Einfluss auf die Gestaltung als die Computerisierung maeda1. Ich denke, wir Kreativen sollten uns vom Paradigma des Designers, bzw. der Designerin als Schöpfer:in schöner Formen verabschieden. Stattdessen sollte sich unsere Arbeit angesichts der rasend schnellen Technologisierung unserer Lebenswelt nicht auf die Dekoration von Oberflächen beschränken, sondern sich ebenfalls der großen Verantwortung für das stellen, was sich unterhalb dieser Oberflächen verbirgt.

Das Potenzial eines Gestaltungsbegriffs, der die Komplexität der Technologie mutig als Herausforderung annimmt, liegt in der verheissungsvollen Perspektive, die digitale Sphäre nicht nur zu dekorieren, sondern neu zu denken und zu entwerfen. Doch dafür brauchen wir einen möglichst einheitlichen Kanon aus Technologien, Methoden und Werkzeugen, die für die Ausbildung von Künstler:innen und Designer:innen im 21. Jahrhundert als solides Fundament taugen. Hier habe ich als Lehrender an verschiedenen Hochschulen großes Chaos vorgefunden, das Studierende in höchstem Maße verwirrt und demotiviert hat.

Alle Technologien der Informationssphäre bestehen aus demselben Stoff, dem Code. Er ist komplex und er ist fremd. Aber er ist der Schlüssel zur Reflexion des Digitalen. Deshalb sollte Creative Coding in meinen Augen im Fundament der Ausbildung von Kommunikationsdesigner:innen seinen verdienten Platz bekommen.

ifdf1: Vgl. IF Design Foundation: Designing Design Education. Weissbuch zur Zukunft der Designlehre. Stuttgart 2021. S. 73.
ct1: Vgl. Siu-Cheung Kong, Harold Abelson: Computational Thinking Education. Berlin 2019, S. 41.
ct2: https://www.bbc.co.uk/bitesize/guides/zp92mp3/revision/1, aufgerufen am 18. 6. 2022.
bridle1: Vgl. James Bridle: New Dark Age. Der Sieg der Technologie und das Ende der Zukunft. München 2019, S. 12.
maeda1: Vgl. John Maeda: How to speak Machine. Computational thinking for the rest of us. New York City 2019, S. 12.
dobelli1: Vgl. Rolf Dobelli: Klar denken, klug handeln. München 2011, Seite 33.
page1: https://page-online.de/branche-karriere/interview-mit-tim/
manifesto: https://timrodenbroeker.de/creative-coding-manifesto-2021/
codeart1: Vgl. Georg Trogemann, Jochen Viehoff: code@art. Eine elementare Einführung in die Programmierung als künstlerische Praktik. Wien 2005, Seite 10.
harari1: Vgl. Yuval Noah Harari: 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert. München 2018, Seite 72.
maeda2: Vgl. John Maeda: Computational Thinking for the Rest of Us. New York City 2019, Seite 13.